„Das Problem mit dem Mangel – einfache Lösungen gibt es nicht“

Ein Beitrag von Prof. Dr. Falk Radisch (Institut für Schulpädagogik und Bildungsforschung (ISB)) und Ivonne Driesner (Landesweites Zentrum für Lehrerbildung und Bildungsforschung Mecklenburg-Vorpommern (ZLB) an der Universität Rostock) aus dem Newsletter Monitor Lehrerbildung vom 05. Februar 2021.

Das deutsche Schulsystem hat Probleme, und zwar gleich mehrere. Neben der Pandemie und ihren Folgen ist eine weitere Herausforderung der aktuelle Mangel an Lehrkräften. Dies ist kein neues Problem und wird auch in den kommenden Jahren die Schulpraxis und -forschung bestimmen, da mittelfristig eine erhebliche Diskrepanz zwischen dem Lehrkräfteersatzbedarf und verfügbaren neuen Lehrkräften besteht. Folgt man den offiziellen Zahlen für Deutschland, dann wird der erhöhte Ersatzbedarf noch mindestens etwa 3 bis 5 Jahre eine Rolle spielen. Diese Einschätzung muss aber mindestens für die einzelnen Bundesländer differenziert werden: In den alten Bundesländern scheint der Lehrkräftemangel insgesamt schon in nur zwei Jahren zu enden und in den folgenden Jahren werden nach aktuellen Kalkulationen insgesamt sogar mehr Lehrkräfte ausgebildet als durch den normalen Lehrkräfteersatzbedarf benötigt würden. Für die neuen Bundesländer zeigen die Statistiken hingegen, dass der Lehrkräftemangel über eine deutlich längere Zeit virulent bleiben wird. Die Unterschiede innerhalb dieser beiden Ländergruppen sind dabei ebenfalls erheblich.

Und auch innerhalb der Bundesländer fällt der Lehrkräfteersatzbedarf in einzelnen Regionen sehr unterschiedlich aus; u.a. weil die universitären Standorte der Lehrkräfteausbildung und die regionalen Ausbildungszentren der zweiten Phase die Verfügbarkeit von neuen Lehrkräften in erheblichem Maße zentralisieren. Zudem ist auch die Situation für die einzelnen Schultypen sehr unterschiedlich. So zeigen sich Probleme im Ersatzbedarf vor allem in den Lehrämtern für den Primarbereich und für die sonderpädagogischen Förderschwerpunkte. Um das Problem in der Komplexität noch weiter zu steigern, gibt es darüber hinaus große Unterschiede zwischen den verschiedenen Fächern innerhalb der Lehrämter. Die Probleme mit der Gewinnung von Lehrkräften für Informatik, Mathematik und die Naturwissenschaften sind bekannt. Auch hier sind die Unterschiede – sowohl auf der Ebene von Lehramtstypen als auch von Fächern – über die Bundesländer hinweg je anders zusammengesetzt. Entsprechend müssen Lösungsansätze vornehmlich auch innerhalb der ohnehin zuständigen Bundesländer gestaltet und umgesetzt werden. 

Der Weg in das Lehramt dauert mit der ersten und zweiten Phase mindestens etwa fünf bis sieben Jahre. Demnach benötigt man mindestens 7 bis 8 Jahre Vorlaufzeit, um dem erhöhten Lehrkräftemangel mit den etablierten Systemen der Lehrkräfteausbildung begegnen zu können. Theoretisch lässt sich der Ersatzbedarf etwa 10 Jahre im Voraus abschätzen – entsprechend sollte genügend Zeit vorhanden sein, um Veränderungen, Reformen und Kapazitätserhöhungen in der Lehrkräftebildung „bedarfsgerecht“ vornehmen zu können. Diese Denkweise verkennt aber einige entscheidende Probleme: ein schwerfälliges System der Lehrkräftebildung, das nur verspätet auf Innovationen reagiert; häufig naive Steuerungs- und Planungsvorstellungen; begrenztes und problematisches Wissen über das Bildungssystem; zu wenig aktuelle und unrealistische Prognosen sowie unerwartet hoher, unbekannter Schwund im Lehrkräftebildungssystem. Zum letzten Punkt zeigen aktuelle Untersuchungen in Mecklenburg-Vorpommern erstmals differenzierte Befunde für die Studienverläufe im Lehramtsstudium. Neben erheblichen Schwundquoten fallen die Differenzen zwischen Studienstandorten, Fächern und Lehramtstypen sowie der geringe Anteil der Abschlüsse in der Regelstudienzeit auf.

Die Lösung des komplexen Problems Lehrkräftemangel erfordert ebenso komplexe Herangehensweisen: Es bedarf zunächst besserer Prognosemodelle mit realistischeren Annahmen und mit Variationen von Annahmen, die helfen, verschiedene mögliche Verläufe zu antizipieren. Diese Prognosen müssen auch jährlich oder alle 2-3 Jahre aktualisiert werden. Zum anderen brauchen wir mehr grundlegende Reformen in der grundständigen Lehrkräftebildung – und dafür ist vor allem Kommunikation und Kooperation innerhalb und zwischen den beteiligten Institutionen und den verantwortlichen Ebenen notwendig, um die Qualität und Effizienz der Lehrkräftebildung zu erhöhen. Der akute Mangel ist aber nicht ohne alternative Wege ins Lehramt zu bewältigen. Ein ergänzendes stabiles, dauerhaftes und flexibles System alternativer Wege zum Lehrberuf kann mittelfristig auch einen wichtigen Qualitätsbeitrag in Lehrkräftebildung und Schule leisten. Dazu sind verbindliche, aber flexible Standards für die Qualifizierung von Lehrkräften im zweiten Bildungsweg notwendig, die zusammen mit der (zu reformierenden) grundständigen Lehrkräftebildung gedacht und entwickelt werden müssen.